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Das Buch ist ungelesen, aber an den Ecken unten eingestossen.

 

Eine Frau aus der haitianischen Bourgeoisie erfindet sich nach der Trennung von ihrem Mann eine neue Identität und wird zu Frida, einer Prostituierten in einem schäbigen Bordell der Unterstadt. Im Rhythmus des Fado verschwimmen die Grenzen von Vernunft und Wahn, Leben und Tod. Ein Hauch von Belle du jour in Port-au-Prince.

 

Leseprobe:

'Was ist das für eine Musik?' 'Ein Fado.' 'Ah.' Léo hat mir schließlich die Frage gestellt, die ihn schon seit einigen Tagen umtreibt. Ich lese noch viele weitere Fragen in seinem Gesicht. Ich suche seinen Blick, er sieht perplex woanders hin. Ich verwirre ihn, denn ich scheine nicht zu leiden. Er versteht nicht, dass ihn so viele Dinge ersetzen, seit er nicht mehr mit mir zusammen lebt. Vieles, das ihn anzieht und ihm gleichzeitig auch Angst macht. Wie dieser Fado, den ich ständig höre. Die Stimme von Amália Rodrigues, die mein Zimmer intensiv wie einen Abschied macht. Das Geräusch des Meeres zwischen meinen Laken. Der Ozean, der so nah ist und einen doch bis zum Hafen von Lissabon forttragen kann. Mein Bett wie der Tejo, mein Körper der Torre de Belém, Zeugen eines dunklen Schicksals, das Kurs auf Benin hielt. Die Gitarren, die auf meiner Haut den Duft eines unerträglichen Abschieds, eines unvermeidlichen Schmerzes hinterlassen. Und meine Dessous, diese vielen Spitzen, die mir früher zuwider waren. Das trunkenrote Gespinst meiner Schlüpfer, das schwindelnde Indigo meiner Büstenhalter. Léo weiß, dass ich immer noch auf ihn warte, dass ich mich nach seiner Begierde sehne. Und dann ist da noch diese Katze, meine neue Gefährtin, ich habe sie Dulce getauft, die Sanfte mit den goldenen Augen. Sie liebt genauso wie ich den Fado. Und dies, obwohl ich zu Léos Zeiten nie ein Tier im Haus haben wollte, nicht einmal einen Wellensittich oder einen Goldfisch. Auch trinke ich nun abends kühlen Weißwein. Frida würde sagen, um der Nacht entgegenzutreten. 'Wer bist du, Anaïse?' Das ist die Frage, die Léo mir eigentlich stellen will. Oder besser: 'Wer bist du geworden, Anaïse?' 'Ich bin Frida … manchmal. An manchen Tagen. Aber das würdest du nicht verstehen, Léo … Das ist eine Geschichte, aus der ich selber nicht schlau werde, der ich nicht gewachsen bin. Ich weiß lediglich, dass ich an dem Tag, an dem man mir Bony bei einer Geburtstagsfeier vorgestellt hat, begonnen habe, in Fridas Haut zu schlüpfen. Das war kurz nach unserer Scheidung.' Bony … der etwas peinliche Halbbruder der Gastgeberin. Eine Art enfant terrible, eine Mischung aus schwarzem Schaf und Zuhälter mit Engelsgesicht. Bony, der einen Fuß nachzieht. Motorradunfall. Da seine anfängliche Zurückhaltung nach einer halben Flasche Rum verflogen war, erzählte er mit geradezu bestürzender Unbefangenheit vom Leben im Bordell in der Rue des FrontsForts, das er von seiner Mutter geerbt hatte. Das kleine bürgerliche Publikum hörte ihm mit gezwungenem Lächeln zu, angeekelt und fasziniert zugleich von diesem Unternehmer einer eher seltenen Art, dem ihre Meinung offensichtlich schnurz war. Er erzählte ihnen aus seinem Leben, von seinen Scherereien, seinem Geschäft, das in seinen Augen ein Broterwerb wie jeder andere war. Ich hörte ihm mit Augen, Ohren, mit allen Fasern meines Körpers zu, denn Frida begann bereits in mir zu erwachen. Fasziniert folgte ich ihm durch die etwa zehn kleinen Kammern des engen und abgenutzten zweistöckigen Gebäudes, das in der Hitze der Altstadt glühte. Die schluchzende Fadostimme der Amália Rodrigues begleitete unsere Schatten, als ich hinter seinen hinkenden Schritten die beschwerlichen Stufen des Hotels hinaufging. Bony erzählte von Kunden, die Handtücher stahlen, so dass man sie unaufhörlich ersetzen musste, von den unerschwinglichen Preisen der Leintücher, vom Stadtviertel ohne Wasseranschluss, vom Wasser, das zur Zeit seiner Mutter noch 50 Centime und heutzutage fünf Gourde pro Eimer kostete. Er erzählte von den Mädchen, die immer verschwenderischer und fauler wurden und ihr Handwerk immer schlechter beherrschten.

 

  • Herausgeber ‏ : ‎ litradukt Literatureditionen (2010)  
  • HC geb.: ‎ 72 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3940435074
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 9783940435071
  • Originaltitel ‏ : ‎ Fado
  • Abmessungen ‏ : ‎ 12.6 x 1.5 x 20.3 cm

Kettly Mars, Fado (antiquarisch)

Artikelnummer: 9783940435071
CHF 7.50Preis
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